Zu I. Nachträgliche Legalisierung der kommunalen Entlastungsstraße
Zu 1: Die Ausführungen von Herrn Prof. Gellermann lassen meines Erachtens, wenn ich diese richtig verstanden habe, eher den Schluss zu, dass eine "nachträgliche Legalisierung der kommunalen Straße" über eine Veränderung der Sach- und Rechtslage im gegensatz zu seiner Schlussfolgerung gerade nicht möglich ist.
Im Internet habe ich über den § 121 VwGO recherchiert. Nach allgemeiner Rechtsauffassung verbietet es dieser Paragraph, über einen rechtskräftig ausgeurteilten Streitgegenstand erneut zu verhandeln und erneut zu entscheiden (lat.: "ne bis in idem" oder "res iudicata"). Danach sind "nachträgliche Einwände tatsächlicher oder rechtlicher Art, welche die Entscheidungsgrundlage betreffen, präkludiert". (=ausgeschlossen). (vgl. Ehlers, Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, 161)
"Nur der Entscheidungssatz (Tenor) selbst erwächst in Rechtskraft, nicht aber die Entscheidung tragenden Gründe, die festgestellten Tatsachen oder die mitentschiedenen Vorfragen. Ist der Tenor der Entscheidung nicht eindeutig, müssen zu seiner Auslegung alle Entscheidungselemente (insbesondere die tragenden Gründe der Entscheidung) mit herangezogen werden." (vgl. Ehlers, Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, 162)
"Mit der Regelung gibt der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Schutzgut "Rechtssicherheit" Vorrang vor dem ebenfalls verfassungsrechtlichen, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Anspruch auf materielle Gerechtigkeit." (Hrsg. Brands, Sachs, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 3. Auflage 2009).
Deshalb hat auch das BVerwG (als Revisionsinstanz) in dem von Prof. Gellermann zitierten Urteil vom 25.11.1999 - 4 CN 17.98 in seinem Leitsatz festgestellt :
"Hat das Normenkontrollgericht die Nichtigkeit eines Bebauungsplans festgestellt, und erlässt daraufhin die Gemeinde einen neuen Bebauungsplan, so hindert bei gleicher Sach- und Rechtslage jedenfalls die Rechtskraft der Normenkontrollentscheidung das Gericht, in einem von demselben Antragsteller beantragten Normenkontrollverfahren in eine neue sachliche Bewertung der Gründe einzutreten, die die Feststellung der Nichtigkeit der vorangegangen Norm tragen."
Ähnlich wie in dem Fall in Esens - ging es in diesem Urteil um einen vor mehreren Jahren rechtskräftig für nichtig erklärten Bebauungsplan, der von der Antragsgegnerin durch einen neuen Bebauungsplan ersetzt werden sollte. Die Antragsgegnerin hat im Verfahren "vor allem die Unterschiede in den Festsetzungen des neuen gegenüber denen des vorangegangenen Bebauungsplans betont." (Rn.9). "Das Normenkontrollgericht (als Vorinstanz) hatte "den Bebauungsplan mit der Begründung für nichtig erklärt, der neue Bebauungsplan sei mit dem Jahre zuvor für nichtig erklärten Vorgänger-Plan im wesentlichen inhaltsgleich und verstoße damit gegen die dem vorangegangenen Normenkontrollbeschluss zukommende Bindungswirkung und das daraus folgende Normwiederholungsverbot.... Die Aktualisierung der Gründe stelle keine Änderung der Sachlage dar." (Rn.10) Das BVerwG hat der Vorinstanz Recht gegeben und entschieden, dass die Antragsgegnerin "nicht einen neuen Bebauungsplan erlassen durfte, da städtebauliche Gründe, die eine Überschreitung der Obergrenze erforderten, nicht vorlägen." (Rn. 16) "Die von der Antragsgegnerin angeführte <Aktualisierung> der städtebaulichen Gründe stelle keine neue Sachlage dar... Der erkennende Senat sieht in den ergänzenden Erwägungen der Planbegründung auch keine Anhaltspunkte, aufgrund derer sich dem Normenkontrollgericht eine weitere Aufklärung hinsichtlich neuer Gründe für die Maßüberschreitung hätte aufdrängen müssen." (Rn.36)
Vor diesem Hintergrund überrascht es mich, dass Herr Gellermann ausgerechnet dieses Urteil zitiert hat (Fußnote 1), da es den beabsichtigten Interessen der Stadt Esens m. E. fundamental entgegensteht.
Zu 2: Es trifft zwar zu, dass das Nds. OVG in seinen Urteilsgründen auf die fehlerhafte Gebietsabgrenzung des V63 abstellt und daher eine Neuabgrenzung die Rechts- und Sachlage möglicherweise verändern könnte. Diese Frage kann aber nur das zuständige Gericht beantworten.
Ganz anders verhält es sich aber mit dem Tenor der Entscheidung des BVerwG, den Prof. Gellermann nicht einmal erwähnt. Das BVerwG hat nämlich schon mit seiner Revisionsfrage1 dargelegt, dass es auf einen ganz anderen Schwerpunkt, nämlich auf "die strikte Beachtung der habitatschutzrechtlichen Verfahrensanforderungen und gegebenenfalls der inhaltlichen Anforderungen an eine Abweichungsentscheidung" abzielt (Rn.31 a.a.O.) und dabei insbesondere die korrekte zeitliche Aufeinanderfolge von Regimewechsel (gem. Art.7 FFH-RL)..... Schutzgebietsausweisung mit der Festlegung aller Erhaltungsziele), Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen (gem. Art.6 Abs. 3 und 4 FFH-RL) und erst danach Plangenehmigung bzw. Planvollzug ….für entscheidend erachtet.
Bei seiner Entscheidung hat sich das BVerwG ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EuGH berufen.
"Die Forderung nach einer vorhergehenden Meldung und Ausweisung ist auch - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin (gemeint ist der damalige Prozessbevollmächtigte der Stadt Esens) - keine bloße Förmelei. Vielmehr ist dem Vogelschutz in diesem Fall durch das Regelungskonzept des FFH- Rechts Rechnung zu tragen." (Rn.31 a.a.O.)
Das BVerwG sagt klipp und klar und begründet dies auch unter Rn.29 a.a.O.:
"Die Anerkennung eines rückwirkenden Maßstabswechsels bei der Frage der zutreffenden Abgrenzung eines faktischen Vogelschutzgebiets widerspräche auch dem Sanktionscharakter, den der Europäische Gerichtshofs dem strengen Schutzregime des Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der V-RL beimisst."
Dass die rechtswidrige Straße bereits gebaut ist und auch erhalten bleiben soll, kann nach meiner Bewertung nur bedeuten, dass die Rechts- und Sachlage im Hinblick auf die rechtskräftige Entscheidung des BVerwG unverändert bleibt.
Wenn ich die Ausführungen zu dem § 121 VwGO richtig verstanden habe, führt dies dazu, dass die Bindungswirkung des §121 VwGO greifen wird, so dass ein neuer Bebauungsplan wieder "ins Leere laufen würde."
Meine Vermutung wird durch folgende Umstände erhärtet:
So ist auch der 3. Bebauungsplan, die sog. 1.Änderung des Bebauungsplans Nr.72, vom Nds. OVG für rechtsunwirksam erklärt worden, obwohl er tatsächlich erst nach der Schutzgebietsausweisung des Landkreises Wittmund (Okt. 2010) im Februar 2011 aufgestellt worden ist; allerdings war zu diesem Zeitpunkt der Straßenbau schon nahezu vollendet, so dass für diesen 3. Bebauungsplan das strenge Regelungskonzept der FFH - Richtlinie nicht mehr durchgeführt werden konnte.
Auch das BVerwG hat meines Erachtens durch die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde der Stadt Esens zu den Bebauungsplänen Nr.72 erkennen lassen, dass es in der Neuabgrenzung des Vogelschutzgebietes und der Neuaufstellung von Bebauungsplänen keine Heilungsmöglichkeit gesehen hat; denn die Stadt Esens hat dem BVerwG im September 2013 den Neuabgrenzungsentwurf des Nds. Umweltministeriums und Anfang November 2013 den Aufstellungsbeschluss der Stadt Esens zu den Bebauungsplänen Nr.78 A-C und 1. Änderung des Bebauungsplans Nr.67 übersandt, um dadurch das BVerwG zu veranlassen, ein Revisionsverfahren für den Bebauungsplan Nr.72 und dessen 1.Änderung zuzulassen, aber – wie bekannt - ohne Erfolg.
Zu 3:
Auch Prof. Gellermann weist zu Recht darauf hin, dass der Abgrenzungsvorschlag des Nds. Ministeriums für Umwelt, Energie und Klimaschutz (Stand Juli 2014) fehlerhaft ist.
Sein Abgrenzungsvorschlag sowie seine Begründung sind jedoch - soweit ich es zu beurteilen vermag - teilweise sachwidrig und fachlich unzutreffend:
a) Die von ihm monierte Fläche "zwischen dem Oldendorfer Tief und dem westlichen Ortsrand von Bensersiel" verfügt nämlich nicht über eine flächen- und zahlenmäßige Eignung und ist daher nicht in das EU- Vogelschutzgebiet V63 einzubeziehen, weil diese Fläche
niemals von wertbestimmenden Vogelarten in durchschnittlichem Ausmaß frequentiert wurde (Gellermann selbst erwähnt nur den Kiebitz, der keine wertbestimmende Vogelart im V63 darstellt)
wegen des nördlich sich unmittelbar anschließenden großen Parkplatzes, des lebhaften Strand -, Schwimmbad - und Campingbereiches nicht "in einem engen räumlichen und ökologischen Beziehungsgefüge zu dem Nationalpark V1 Nds. Wattenmeer steht" und
auch niemals dem IBA - Gebiet NI044 (Vorläufer des V63) zugerechnet worden ist (wie amtliche Karten auch beweisen) und somit die Aussage von Herrn Prof. Gellermann zur IBA - Zugehörigkeit dieser Flächen eindeutig widerlegt.
Sowohl nach den für die Schutzgebietsausweisung gültigen unionsrechtlichen Grundsätzen (siehe Mahnschreiben der EU) und den vom Land Niedersachsen festgelegten Auswahlkriterien (Abgrenzungsvorschlag des Nds. Umweltministerium von 2007) ist diese Fläche keinesfalls dem EU - Vogelschutzgebiet V63 einzugliedern.
b) Stattdessen hätten aber östlich von Bensersiel zwei ehemalige IBA - Teilflächen nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH und ihm folgend des BVerwG bei unvoreingenommener Betrachtung in die Neuabgrenzung einbezogen werden müssen , weil sie
ehemalige IBA - Teilflächen darstellen, die ohne ornithologischen Gegenbeweis weiterhin den Status eines faktischen Vogelschutzgebietes tragen und somit einer strengen Veränderungssperre unterliegen (keine Nutzung mit Projekten möglich !), wie dies u.a. in dem Urteil des BVerwG vom 27.3.2014 (Rn. 17 und 19) ausgeführt ist,
aus älteren Datenunterlagen hervorgeht, dass wertbestimmende Vogelarten des V63 wie der Große Brachvogel, die Sturm- und Lachmöwe, der Goldregenpfeifer, die Weißwangengans, das Blaukehlchen und der Schilfrohrsänger diese und unmittelbar angrenzende Teilflächen des V63 und V01 regelmäßig zur Rast und Nahrungsaufnahme aufsuchen,
es sich um wertvolle Biotopverbundelemente handelt, die nicht nur zwei Vogelschutzgebiete (V01 und V63) miteinander verbinden, sondern auf deren unmittelbar benachbarten Flächen der Große Brachvogel als Gastvogel nachweislich mit nationaler Bedeutung (gemäß Ramsar - Konvention) auftritt,
diese Flächen auch nicht durch den rechtswidrigen Straßenbau ornithologisch entwertet wurden,
diese Flächen entgegen der eindeutigen Rechtsprechung des EuGH und des BVerwG (sowie der Urteile des BVerwG vom 27.3.2014, Rn.17 und 22, und des Nds. OVG vom 10.4.2013, Rn.59) aus wirtschaftlichen Gründen (zukünftige Baulandfläche der Stadt Esens und Golfplatz) aus dem Vogelschutzgebiet "herausgesägt" wurden.
„Die Auswahlentscheidung hat sich ausschließlich an diesen ornithologischen Erhaltungszielen zu orientieren. Eine Abwägung mit anderen Belangen findet nicht statt........dürfen..Praktikabilitätserwägungen..wie..städtebauliche Entwicklungsmöglichkeiten bei der Grenzziehung nicht berücksichtigt werden.“ (Nds.OVG vom 10.4.2013 - 1 KN 33/10, Rn.59).
Insofern ist die Feststellung von Herrn Prof. Gellermann, dass "die Neuabgrenzung des Ministeriums sowie eine sich daran orientierende Unterschutzstellung durch den Landkreis Wittmund nicht die erforderliche Sicherheit bieten, dass das Problemfeld ... in der gebotenen Weise gelöst wird," auch nach meiner Auffassung zutreffend.
Dasselbe trifft allerdings nach meiner Meinung auch für den Vorschlag von Herrn Prof. Gellermann zu.
So ist schon jetzt zu befürchten, dass die auf der Grundlage dieser Neuabgrenzung aufzustellenden Bebauungspläne der Stadt Esens ebenso für rechtsunwirksam erklärt werden wie die Vorgänger-Bebauungspläne (vgl. Urteil des BVerwG vom 10.4.2013)
II. Positiver Ausgang einer neuerlichen Planung unter habitatschutzrechtlichen Aspekten
Zu 1: Herr Prof. Gellermann geht davon aus, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung ergeben wird, dass eine Abweichungsprüfung erforderlich sein wird.
Diese Auffassung ist nicht neu, da einer Stellungnahme des Landkreises Wittmund sowie auch den Begründungen zu den Bebauungsplänen Nr.67 und 72 (einschließlich 1. Änderung des BP Nr.72) und dem Grünordnungsplan von 2004 zu entnehmen ist, dass durch den Straßenbau erhebliche Beeinträchtigungen entstehen werden und sogar das Nds. Umweltministerium dem Eigentümer im Februar 2015 schriftlich bestätigt hat, dass die der Straße benachbarten Flächen bereits als Folge des Straßenbaues "erheblich beeinträchtigt" sind.
Zu 2: Nach dem von Herrn Prof. Gellermann zitierten Urteil des EuGH vom 16.2.2012 (Fußnote 12) können die "strengen Ausnahmevoraussetzungen" gar nicht geprüft werden, weil die hierzu erforderliche Abweichungsprüfung nach Art.6 Abs.4 FFH-Richtlinie erst möglich ist, wenn zuvor eine Umweltverträglichkeitsprüfung nach Art.6 Abs.3 FFH-Richtlinie durchgeführt worden ist. In dem von Prof. Gellermann erwähnten Urteil des EuGH heißt es nämlich unter Rn.73f., dass Ausgleichs- (oder Kompensations-) Flächen vor der Genehmigung des Projektes im Rahmen einer Abweichungsprüfung bestimmt werden und erst dann
"zur Anwendung kommen, nachdem die Auswirkungen eines Plans oder Projekts gemäß Art.6 Abs.3 der Habitatrichtlinie analysiert" worden sind, da "die Beeinträchtigungen des Gebiets genau identifiziert werden müssen, um die Art etwaiger Ausgleichsmaßnahmen bestimmen zu können."
In den Normenkontrollverfahren zu den Bebauungsplänen Nr. 67 und 72 war es unstreitig, dass die Stadt Esens vor dem Vollzug ihrer Bebauungspläne keine Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen gemäß Art.6 Abs. 3 und 4 FFH-RL durchgeführt hat; sie hat das sogar selber mehrfach eingeräumt (vgl. dazu z.B. die Bekanntmachung der 1. Änderung des Bebauungsplans Nr.72 im Anzeiger für Harlingerland vom 10.11.2010).
Nach dem strengen Regelungskonzept der FFH - Richtlinie hätten diese Prüfungen jedoch vor der Genehmigung der Bebauungspläne durchgeführt werden müssen, wie auch das BVerwG in seinem Urteil vom 27.3.2014 (Rn 30 a.a.O.) ausdrücklich dargelegt hat.
Da der EuGH in mehreren Entscheidungen (z.B. EuGH vom 13.12.2007 – 418/04, Rn.246; EuGH vom 20.9.2007 – C-304/05, Rn.72f.) bestimmt hat, dass nach der Genehmigung durchgeführte Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen irrelevant sind und nicht mehr im Sinne des Art.6 Abs. 3 und 4 FFH-RL nachgeholt bzw. anerkannt werden können, folgt daraus:
Die bestehende Straßentrasse ist ohne die erforderlichen Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen gem. Art.6 FFH-RL geplant und gebaut worden.
Diese Prüfungen können für die vorhandene Trasse im Rahmen neuer Bebauungspläne (Nr.78 A-C) nicht mehr nachgeholt werden.
Da die ordnungsgemäße Umweltverträglichkeitsprüfung fehlt, kann auch keine ordnungsgemäße Abweichungsprüfung erfolgen; somit können auch keine wirksamen Kompensationsflächen ausgewählt werden.
Folglich fehlt für die bestehende Trasse dauerhaft ein wesentlicher Baustein in dem strengen Regelungskonzept des EU-Rechts für die Legitimation des Straßenprojektes in einem EU-Vogelschutzgebiet.
Im Übrigen hat Prof. Gellermann zu Recht darauf hingewiesen, dass wegen der bereits vorhandenen Existenz der Entlastungsstraße eine offene und vorurteilsfreie Alternativenprüfung im Grunde gar nicht mehr möglich ist.
Prof. Gellermann hofft anscheinend, dass durch die zu erwartende Entscheidung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren C-399/14 (Grüne Liga Sachsen) der Umstand berücksichtigt werden könnte, dass der Rückbau der Straße neue Beeinträchtigungen der Schutz- und Erhaltungsziele hervorrufen und somit nicht durchsetzbar werden würde.
Selbst wenn der EuGH eine solche Entscheidung treffen würde, sprechen einige Argumente dagegen, dass die Stadt Esens diese zu ihrem Vorteil nutzen kann:
Es ist gerichtlich festgestellt worden, dass alle an den Bebauungsplänen der Umgehungsstraße beteiligten Behörden die naturschutzrechtlichen Umstände seit Jahren kannten und somit vorsätzlich gegen das Unionsrecht verstoßen haben (vgl. Urteil des BVerwG vom 27.3.2014, Rn. 4 und 29f.)
Auch als das BVerwG die Revision gegen den Bebauungsplan Nr.67 (Urteil vom 22.5.2008) zugelassen hatte, hat die Stadt Esens zunächst intensiv weiter gebaut, bis das BVerwG den Weiterbau untersagte.
Im Übrigen hat schon das BVerwG in den Rn. 29-30 seines Urteils vom 27.3.2014 ausgeführt, dass die Stadt Esens sogar "in doppelter Weise" gegen das Unionsrecht verstoßen hat, zum einen wegen der Nichtbeachtung der zeitlichen Reihenfolge (Planung und Bau vor der Unterschutzstellung) und zum anderen wegen der fehlenden Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen, und dass sie "aus der Missachtung ihrer unionsrechtlichen Pflichten keinen Vorteil ziehen darf“.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einem Rechtsstaat hingenommen wird, dass jemand, der vorsätzlich gegen ein Gesetz verstößt, sich später darauf berufen darf, dass sein Gesetzesverstoß nicht geahndet wird, weil dadurch noch größerer Schaden entstehen könnte. Denn würde ein solches Verhalten gebilligt werden, so würde das unter potentiellen Umwelttätern "schnell Schule machen".
Auch die bei der Neuabgrenzung ausgewählten Neuflächen müssten m.E. unter diesem Aspekt gerichtlich überprüft werden. Es kann doch nicht sein, dass eine Behörde, die gravierende Fehler gemacht hat, demjenigen den Schadensersatz auferlegt, der geschädigt worden ist, um selber aus dem eigenen Fehlverhalten weitere Vorteile (Erhalt der rechtswidrigen Straße, Vorteil öffentlicher Subventionen) zu erzielen, statt für die Folgen der Fehler einzutreten. Denn nach dem Neuabgrenzungsentwurf werden nur private Eigentümer (insbesondere der obsiegende Kläger) herangezogen, um Kompensationsflächen bereitzustellen, obwohl die neue, noch im Entwurf befindliche Kompensationsverordnung vorsieht, dass "zur Deckung des Kompensationsbedarfs insbesondere auf Maßnahmen auf Flächen der öffentlichen Hand zurückgegriffen werden soll“.
Mich verwundert überdies , dass Prof Gellermann aus mir nicht ersichtlichen Gründern bei seinem Verweis auf den Beschluss des BVerwG vom 06.03. 2014 ( nicht wie fälschlicherweise 2015 zitiert ) , Fußnote 11) unerwähnt gelassen hat, dass dem von ihm benannten Streitgegenstand „Waldschlösschenbrücke Dresden“ ein Planfeststellungsbeschluss , also ein Verwaltungsakt, zugrunde liegt.
Bei Vorliegen einer solchen Rechtsgrundlage sind natürlich spätere Korrekturen möglich und zulässig.
Im Fall der Bensersieler Entlastungsstraße jedoch handelt es sich um ein Bebauungsplanverfahren ( = Satzung) und somit ein juristisch völlig anderer Sachverhalt.
Zu 2.2 Herr Prof. Gellermann weist zu Recht darauf hin, dass es "sich auf der Grundlage der verfügbaren Unterlagen derzeit nicht beurteilen lässt, ob die zugunsten der Entlastungsstraße herangezogenen Gründe so gewichtig sind, dass die beeinträchtigten Integritätsinteressen des Naturschutzes dahinter zurückzustehen haben."
Das hat folgende Gründe:
Wie oben bereits dargelegt, sind vor der Genehmigung bzw. vor dem Bau der Straße keine ordnungsgemäße Umweltverträglichkeits- und Abweichungsprüfungen erfolgt, so dass mögliche "Konflikte mit den Schutz- und Erhaltungszielen", wie Herr Prof. Gellermann sich ausdrückt, gar nicht mehr erkannt werden können; der Straßenbau hat ja bereits zu erheblichen Biodiversitätsschäden geführt.
Obwohl EuGH und BVerwG für eine solche Prüfung die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse (Bestanddaten) verlangen, lagen weder bei der Planung der Bebauungspläne Nr. 67 und 72 noch liegen bis heute ausreichende Daten vor. Sämtliche Daten sind veraltet (bis zu 19 Jahre alt) und somit unbrauchbar , da sie vor dem Straßenbau oder nicht einmal auf den für den Straßenbau und/oder die Neuabgrenzung relevanten Flächen erhoben worden sind.
In den Bebauungsplänen sind an keiner Stelle konkrete Daten zu den Rastvögeln verzeichnet, diejenigen der Brutvögel sind unzureichend. Es gibt keine hinreichend belastbaren Vogeldaten für die Zeit vor und unmittelbar nach dem Straßenbau; dies geht aus den alten Bebauungsplanunterlagen sowie aus den Unterlagen zum Anhörungsverfahren der Neuabgrenzung des Nds. Umweltministeriums vom 20.8.2014 hervor.
Die Vogelschutz- und FFH - Richtlinien schreiben zwingend vor, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung an allen Erhaltungszielen des jeweiligen Schutzgebietes orientiert sein muss; auch das ist nicht geschehen, wie aus den amtlichen Bauplanungsunterlagen zu erkennen ist, und kann nach der Rechtsprechung des EuGH jetzt auch nicht mehr nachgeholt werden.
Auf unserer Homepage ist die Entstehungsgeschichte der Straßenplanung dargestellt. Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass Planung und Bau der Straße in keinem Zusammenhang mit dem Kurortprädikat von Bensersiel stehen und Lärm- und Staubemissionen wegen der geringen Ortsgröße und der unmittelbaren Lage an der Nordsee nicht relevant sind.
Zusammengefasst : ich habe nach Lektüre des Gutachtens den Eindruck gewonnen, als seien nur bestimmte Aspekte selektiv behandelt worden.
Ich bedauere, dass es nicht gelungen ist, durch das Gutachten endlich rechtliche Klarheit zu bekommen.
Meine Befürchtung :
eine einvernehmliche Einigung könnte durch die Darstellung des Prof. Gellermann erschwert werden.
M.E. sollte ein weiterer Lösungsansatz untersucht werden, der sich aus der Anwendung des § 62 BNatSchG (Bereitstellen von Grundstücken) ergeben könnte:
"Der Bund, die Länder und sonstige juristische Personen des öffentlichen Rechts stellen in ihrem Eigentum oder Besitz stehende Grundstücke, die sich nach ihrer natürlichen Beschaffenheit für die Erholung der Bevölkerung eignen oder den Zugang der Allgemeinheit zu solchen Grundstücken ermöglichen oder erleichtern, in angemessenem Umfang für die Erholung bereit, soweit dies mit einer nachhaltigen Nutzung und den sonstigen Zielen von Naturschutz und Landschaftspflege vereinbar ist und eine öffentliche Zweckbindung dem nicht entgegensteht."
Wenn die Stadt Esens Eigentümer der Straße ist, müsste es doch möglich sein, sie mit dieser Zielsetzung …... nach Erlass der Landschaftsschutzverordnung.... auch in einem Naturschutzgebiet zu erhalten.
Zumindest könnte eine künftige Bebauungsplanung damit möglicherweise... vielleicht auch nur hilfsweise … begründet werden.