Martin Gellermann, Schlesierstraße 14, 49492 Westerkappeln
Stadt Esens
Herrn Stadtdirektor Harald Hinrichs
Am Markt 2-4
26427 Esens
per eMail: Harald.Hinrichs@esens.de
apl. Prof. Dr. Martin Gellermann
außerplanmäßiger Professor
an der Universität Osnabrück
Rechtsanwalt
Schlesierstraße 14
49492 Westerkappeln
Tel.: 05404/91969
Fax: 05404/919475
M.Gellermann@t-online.de
Ihr Zeichen Geschäftszeichen GE/17/15
Datum 09.07.2015
Kommunale Entlastungsstraße Bensersiel
hier: Anmerkungen zur Stellungnahme des Ratsherrn Schultz vom 08.07.2015
Sehr geehrter Herr Stadtdirektor Hinrichs,
für die Übermittlung der Stellungnahme des Ratsherrn Erwin Schultz vom 08.07.2015
danke ich. Die Ausführungen von Herrn Schultz habe ich zur Kenntnis genommen
und erlaube mir, auf folgende Aspekte aufmerksam zu machen:
I. Meine Stellungnahme vom 23.06.2015 ist kein Gutachten. Vielmehr handelt es
sich um eine Stellungnahme zu den von Ihnen per eMail vom 04.06.2015 übermittelten
Fragen.
II. Auf S. 2 seiner Stellungnahme zitiert Herr Schultz eine Passage aus dem Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.11.1999, 4 CN 17.98, aus der sich ergibt
dass aus § 121 VwGO bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage ein Verbot der
Normwiederholung folgt. In Konsequenz dessen kann der Normgeber eine inhaltsgleiche
Norm erlassen, wenn sich die Sach- oder Rechtslage ändert (unstr., vgl. nur
Gerhardt/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 28. Lfg. 2015, § 47 Rn. 119). Das
gilt auch für Bebauungspläne, die als Satzungen erlassen werden (§ 10 Abs. 1 BauGB) und dem Kreis der Rechtsnormen im materiellen Sinne zugehören.
Mit einer Neuabgrenzung des Gebietes durch das MUEK ändert sich weder die
Sach- noch die Rechtslage, weil hierdurch lediglich bestätigt wird, dass die in die Kulisse
einbezogenen Flächen über die Qualität eines „faktischen Vogelschutzgebietes
verfügen. Entsprechendes gilt für die Meldung des neu abgegrenzten Gebietes an
die EU-Kommission (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2009/147/EG, Vogelschutz-Richtlinie - VRL), weil es sich dabei um einen rein informatorischen Akt handelt. Erst wenn nach einer beanstandungsfreien Abgrenzung das Gebiet bzw. ein in die Kulisse einbezogener
Gebietsteil in Erfüllung der Pflicht aus § 33 Abs. 2 BNatSchG zum besonderen
Schutzgebiet erklärt wird, kommt es zu einem Wechsel des Schutzregimes.
Aus dem bis dahin „faktischen Vogelschutzgebiet“, dessen Schutz durch Art. 4 Abs. 4 S. 1
VRL sichergestellt wird, ein Europäisches Vogelschutzgebiet, das den demgegenüber
abgeschwächten Schutz des zur Umsetzung des Art. 6 Abs. 2-4 (i.V.m. Art. 7)
der Richtlinie 92/43/EWG (Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie – FFH-RL) bestimmten
§ 34 BNatSchG genießt. Der Regimewechsel ist eine Rechtsänderung, die es mit sich bringt, dass eine Rechtsnorm (z.B. Satzung) erneut mit identischem Inhalt erlassen werden darf, sowie sie den Anforderungen des geänderten Rechts entspricht.
III. Herr Schultz nimmt auf S. 2 f. seiner Stellungnahme das Revisionsurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.03.2014, 4 CN 3.13, in Bezug, das sich lediglich
über die Frage verhält, ob die nach Aufstellung eines Bebauungsplans (hier Bebauungsplan
Nr. 67) erfolgte Gebietsnachmeldung, die ohnehin nur bis an die Straßentrasse
heranreichte, diese aber nicht in das EU-Vogelschutzgebiet einbezog, etwas an der Unwirksamkeit dieses Bebauungsplans ändert. Das Bundesverwaltungsgericht verneint diese Frage aus zwei Gründen:
• Eine Rechtsnorm, die in dem für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitpunkt unter Verletzung höherrangigen Rechts erlassen wurde, ist von
Anfang an unwirksam und kann durch nachträgliche Ereignisse nicht „geheilt werden“. Vereinfachend formuliert: „Tote kann man nicht zum Leben erwecken“.
• Das Sanktionscharakter des Art. 4 Abs. 4 S. 2 VRL steht einer nachträglichen Heilung ebenfalls im Wege.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts trifft keine Aussage darüber, ob nach einem
Wechsel des maßgeblichen Schutzregimes ein Bebauungsplan unter strikter Beachtung der dann maßgeblichen habitatschutzrechtlichen Anforderungen (§ 1a Abs. 4, §§ 34, 36 BauGB) neu aufgestellt werden kann. Aus diesem Grunde wurde die Entscheidung in der Stellungnahme vom 23.06.2015 nicht behandelt, weil es nicht um eine „Heilung“ des Bebauungsplans Nr. 67, sondern um die Neuaufstellung eines Bebauungsplans zum Zwecke der nachträglichen Legalisierung der Entlastungsstraße geht.
IV. Mit Blick auf die Flächen zwischen dem Oldendorfer Tief und dem westlichen Ortsrand hat der Unterzeichner Bedenken hinsichtlich der naturschutzfachlichen Tragfähigkeit der Festlegungen der Gebietsgrenzen durch das MUEK geäußert. Da Herr Schultz diese Bedenken für unberechtigt erachtet, scheint er ornithologische Kenntnisse zu besitzen, über die der Unterzeichner nicht verfügt. Die Überlegungen von Herrn Schultz bieten allerdings aus den in der Stellungnahme vom 23.06.2015 genannten Gründen keinen Anlass, die dort geäußerten Bedenken fallen zu lassen.
Dies umso weniger, als dem Unterzeichner das vom OVG Lüneburg in Bezug genommene
Gutachten vorliegt, aus dem sich ergibt, dass die besagten Flächen vom SPA-Entwurf der Staatlichen Vogelschutzwarte aus dem Jahre 2006 umfasst waren.
Soweit es die von Herrn Schultz angesprochenen Flächen östlich von Bensersiel anbetrifft,
mag es sein, dass es Anhaltspunkte gibt, die es rechtfertigen, auch dort auf die Existenz eines faktischen Vogelschutzgebietes zu erkennen. Im IBA-Verzeichnis (Melter/Schreiber, Wichtige Brut- und Rastvogelgebiete in Niedersachsen, Vogelkundliche Berichte Band 32, 2000, S. 55) wurden diese Flächen allerdings nicht als Important Bird Area gekennzeichnet. Selbst wenn es sich um ein „faktisches Vogelschutzgebiet“ handeln sollte, wäre dies für eine Neuplanung nicht von Belang, weil die Entlastungsstraße dort – ausgehend von der L 5 – nach Süden verschwenkt, die
nördlich gelegenen Flächen nicht in Anspruch nimmt und dieselben – selbst nach
Aussage von Herrn Schultz – ornithologisch nicht entwertet. Unter solchen Vorzeichen
würde das Verbots des Art. 4 Abs. 4 S. 1 VRL nicht aktiviert. Vor einer Neuplanung
sollte dieser Aspekt allerdings sorgfältig überprüft werden.
3 V. Herr Schultz weist in seiner Stellungnahme (S. 5 ff.) zutreffend darauf hin, dass
die planbedingte Verletzung des Unionsrechts vollen Umfangs behoben werden
muss. Das entspricht der mitgliedstaatlichen Loyalitätspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV), die
von jeder staatlichen Stelle und daher auch von der Stadt Esens zu erfüllen ist. Für
die erforderliche Herstellung rechtskonformer Zustände gibt es prinzipiell zwei Wege:
• Nachträgliche Legalisierung, sofern sich die Entlastungsstraße – gemessen am
Maßstab des nach ordnungsgemäße Abgrenzung und Unterschutzstellung maßgeblichen
Schutzregimes – als zulassungsfähig erweist. Neben dem vorherigen Regimewechsel setzt dies eine ordnungsgemäße und vollständige FFH - Verträglichkeitsprüfung voraus, auf deren Grundlage erst beurteilt werden kann, ob die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3-5 BNatSchG erfüllt sind, von deren Vorliegen es abhängt, ob von dem Verbot der erheblichen Gebietsbeeinträchtigung ausnahmsweise abgewichen werden darf.
• Wiederherstellung des vorherigen Zustandes durch Rückbau der Entlastungsstraße.
Die nachträgliche Legalisierung durch Aufstellung eines neuen planfeststellungsersetzenden
Bebauungsplans kommt nur in Frage, wenn die Entlastungsstraße in der zwischenzeitlichen realisierten Weise in einem Europäischen Vogelschutzgebiet ohne Verletzung des für den Schutz dieser Gebiete maßgeblichen Rechts (insbesondere § 34 BNatSchG) geplant werden kann. Ist dies der Fall, entspricht die Straße mithin vollen Umfangs den an ein Projekt zu stellenden Anforderungen des unionsbasierten Habitatschutzrechts, muss sie nicht zurückgebaut werden. Durch eine Neuplanung nach erfolgtem Wechsel des maßgeblichen Rechtsregimes würde der Straße nachträglich die Rechtsgrundlage verschafft, die ihr bisher fehlt. Dass eine auf diesem Wege erfolgende nachträgliche Herstellung eines unionsrechtskonformen Zustandes nicht möglich wäre und in diesem Zusammenhang Prüfungen nicht in rechtskonformer Weise nachgeholt werden könnten, findet in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union keinen Rückhalt (vgl. nur EuGH, Urt. v.
07.01.2004, Rs. C-201/02, Wells, Slg. 2004, I-5989 Rn. 65 zur Nachholung einer unterlassenen Umweltverträglichkeitsprüfung).
Sollte sich allerdings bei einer nachträglichen Überprüfung herausstellen, dass die
Entlastungsstraße in ihrer derzeitigen Gestalt mit den nach ordnungsgemäßer Unterschutzstellung der in Rede stehenden Flächen geltenden Rechtsregeln nicht vereinbar
ist, führt an einem Rückbau der Straße kein Weg vorbei. Da die mitgliedstaatlichen Behörden sowie alle staatlichen Stellen von Unionsrechts wegen verpflichtet sind, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben, dürfte die Entlastungsstraße nicht aufrechterhalten werden. Das wäre im Übrigen auch mit den Prinzipien des Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht vereinbar, zumal andernfalls die rechtwidrig geschaffenen Fakten über das geltende Recht triumphierten.
VI. Der Hinweis darauf, dass im Fall der Waldschlößchenbrücke ein Planfeststellungsbeschluss in Rede steht, während es hier um einen planfeststellungsersetzenden Bebauungsplan geht, ist zutreffend. Anders als im Fall der Waldschlößchenbrücke steht im vorliegenden Fall aber nicht die im Fachplanungsrecht mögliche „Heilung“ der Fehler eines bereits erlassenen Planfeststellungsbeschlusses, sondern der Neuerlass eines planfeststellungsersetzenden Bebauungsplans nach Änderung der Rechtslage („Wechsel des Schutzregimes“) in Rede.
VII. Herr Schultz weist zu Recht darauf hin, dass in der Stellungnahme nur bestimmte
Aspekte, nämlich die grundsätzliche Möglichkeit der nachträglichen Legalisierung
sowie die Bedingungen benannt wurden, von deren Vorliegen ein solcher Schritt abhängt,
behandelt wurden. Rechtliche Klarheit lässt sich – worauf Herr Schultz ebenfalls
zutreffend hinweist – erst gewinnen, wenn die notwendigen Prüfungsschritte
(z.B. FFH-Verträglichkeitsprüfung, Abweichungsprüfung) durchgeführt worden sind.
Das mag man bedauern, indessen lässt sich beim derzeitigen Stand der Erkenntnis
nicht abschließend beurteilen, ob die Entlastungsstraße aufrechterhalten werden
kann oder zurückgebaut werden muss.
Der von Herrn Schultz unterbreitete Vorschlag, die in Rede stehenden Flächen zu
erwerben, löst – jedenfalls in Ansehung des derzeitigen Erkenntnisstandes – das
Problem nicht. Ob die Entlastungsstraße in ihrem Bestand erhalten werden kann,
hängt nicht davon ab, ob die Stadt Esens Eigentümerin der Flächen ist. Selbst wenn
dies der Fall wäre, müsste die Straße zurückgebaut werden, wenn sie – nach Herbeiführung
des erforderlichen Schutzregimewechsels – selbst unter Inanspruchnahme
einer sich auf § 34 Abs. 3 BNatSchG gründenden Ausnahme nicht zugelassen werden
kann. Entspricht die Straße auch nach einem Regimewechsel dem dann geltenden
Recht nicht, weil es räumliche Alternativen gibt, keine zwingende Gründe des überwiegenden
öffentlichen Interesses zugunsten der Straße ins Feld geführt werden können oder der erforderliche Kohärenzausgleich nicht erbracht werden kann, lässt sich ein rechtskonformer Zustand nur noch durch Wiederherstellung des vormaligen Zustandes erreichen. Der Rückbau ist dann die einzige Lösung, um der unionsrechtlichen Loyalitätsverpflichtung (Art. 4 Abs. 3 EUV) gerecht zu werden.
Mit freundlichen Grüßen
apl. Prof. Dr. M. Gellermann
Rechtsanwalt